Sonntag, 11. November 2007

SCHEUNENVIERTEL ANFANG DES 21. Jh.s

Das Jüdische Museum in Berlin - trutzig nach außen, selbstbewusst nach innen - symbolisiert den neuen deutschen Umgang mit der verdrängten Vergangenheit. Die glanzvolle Eröffnung stellte die Jüdische Gemeinde wieder in die Mitte der Gesellschaft. Aus Opfern wurden Zeitzeugen. Der Umgang mit der jüdischen Geschichte gilt als Ausweis für die neue Mündigkeit der Berliner Republik. Und mit dem ersten Spatenstich für das Holocaust-Denkmal am Brandenburger Tor wurde zwei Jahre nach dem Beschluss des Deutschen Bundestages die Mahnmaldebatte abgeschlossen. Das "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" als ein Bekenntnis zur historischen Verantwortung, so Wolfgang Thierse. Doch der Alltag der Jüdischen Gemeinden wird nicht von glänzenden Fassaden kunstvoll restaurierter Synagogen bestimmt. Die Synagoge in der Oranienburger Straße hat wenig gemein mit dem Berliner Scheunenviertel von einst, das Juden und anderen Zuwanderern aus Osteuropa am Rande der Stadt damals Zuflucht bot. Auf engstem Raum war vor dem Krieg ein Milieu-Viertel entstanden, in dem Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten und Kulturen zusammenlebten. Kein Ghetto, sondern ein Kiez. Seit 1989 prägt eine neue Zuwanderung das jüdische Leben in Berlin. Juden aus der ehemaligen Sowjetunion kamen nach Deutschland. Menschen, die ihre Religion nur als Repression erfahren hatten und nun um Hilfe baten, bei den Sozialeinrichtungen der Jüdischen Gemeinde. Rabbiner Walter Rothschild, der aus England nach Berlin kam, betreute die Zuwanderer vier Jahre lang. Vor der Wende habe es ungefähr 6.000 Mitglieder ungefähr in der Westberliner und etwa 1.000 in der Ostberliner Gemeinde gegeben, schätzt er. "Jetzt haben wir 12.000. 12.000 plus." Dazu kämen noch 1.000 Mitglieder in "Adass Jisroel" und schätzungsweise ein paar tausend, die nicht angemeldet sind.
Russisch ist die Hauptsprache
Vor allem die orthodoxe Gemeinde "Adass Jisroel" wurde zu einem neuen Jüdischen Zentrum in Ost-Berlin. Im Scheunenviertel siedelten sich jüdische Geschäfte an und solche, die von der neuen Aufmerksamkeit profitieren wollten. 1988 entstand das erste jüdische Gymnasium Deutschlands. 262 Schüler gehen hier zur Schule. Ein Drittel aller Plätze sind Nicht-Juden vorbehalten. Zwei Drittel der jüdischen Schüler kommen aus der ehemaligen UdSSR. Auf dem Lehrplan stehen deshalb zusätzlicher Hebräisch-Unterricht und die Auseinandersetzung mit dem Judentum. Zwar gebe es, so Direktorin Raissa Kruk, einige Leute, die meinten, das Russische sei sehr ausgeprägt an der Schule. "Aber das kann auch nicht anders gehen, wenn hier über siebzig Prozent der Menschen in unserer Gemeinde aus dem Zuwandererkreis stammen und entsprechend auch die Kinder." 88.000 Mitglieder zählen die Jüdischen Gemeinden in Deutschland heute. 70.000 davon kamen aus der zerfallenen Sowjetunion. Diese Verlagerung von Mehrheiten spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Gemeindevorstands in Berlin. Mit der Wahl des 71-jährigen konservativen Alexander Brenner zum neuen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde im Frühjahr setzten die russischen Neuzuwanderer ein deutliches Zeichen. Brenner räumt ein, dass es Probleme bei der Integration der Flüchtlinge gebe, die ohne Kenntnisse der deutschen Sprache hierher kämen. Zwar sei auch ein Großteil der Juden, die nach 1945 hierher kamen, Flüchtlinge gewesen, doch inzwischen sei schon eine neue Generation herangewachsen. Auch Shelly Kupferberg bestätigt, dass in den letzten Jahren Russisch die Hauptsprache in der Jüdischen Gemeinde Berlin geworden ist: "Als Nichtrussisch sprechender Mensch kann ich aus Erfahrung sagen, dass einem das manchmal fast ein bisschen auf die Nerven geht - dass man sich ausgeschlossen fühlt." Das sind ungewohnte Töne aus einer Jüdischen Gemeinde, deren Spektrum immer vielfältiger wird. Shelly ist in Israel geboren, lebt jedoch seit ihren Kindertagen in Berlin. Und auch wenn sich die Gemeinde verändert hat, das Judentum bestimmt nach wie vor die kulturelle Identität der jungen Journalistin.
Jüdisch-Sein ist hip
Im Cafe Burger geht es hoch her: Einmal im Monat lädt der bekannteste Zuwanderer von Berlin zur "Russendisko". Wladimir Kaminer ist der berühmteste Russe von Berlin - der berühmteste Jude ist er nicht. Und doch steht er mit seinen Kurzgeschichten und Veranstaltungen für eine neue Strömung jüdischer Emigranten aus dem Osten. "Ich bin ein deutscher Schriftsteller", sagt er, "werde aber oft als russischer Schriftsteller angekündigt und auch oft werde ich zu verschiedenen jüdischen Gemeinden eingeladen, um dort eine Lesung zu veranstalten." Doch Wladimir Kaminer hat sich vom Judentum entfernt. Seine Heimat ist der säkulare Kiez am Prenzlauer Berg, weit ab von der Touristen-Attraktion Jüdische Gemeinde. "Noch ist Jüdisch-Sein sehr hip", meint Shelly Kupferberg. "Die Nichtjuden möchten gerne die Klischees, also Jiddisch und Klezmer und Bagels." Doch sie glaubt auch, dass sich das ändern wird: "Ich mache mir darüber häufiger Gedanken, was passiert, wenn die Überlebenden auf beiden Seiten des Holocausts, des Zweiten Weltkrieges, nicht mehr leben werden, was mit der Erinnerung passiert, was mit dem Umgang mit Juden hier in Deutschland passiert. - Ich weiß nicht, ob es dann noch so hip sein wird". Doch im Moment sieht sie einen "Riesenzulauf", zum Beispiel bei den Jüdischen Kulturtagen, und auch das Bestreben der Jüdischen Gemeinde, etwas nach außen zu geben. Solange aber jüdische Kultur rückwärts gewandt und von Stereotypen geprägt wahrgenommen wird, solange jüdische Geschichte stets verbunden mit dem christlichen Antisemitismus ausgestellt wird, solange bleibt ein Zugang zum wirklichen Leben von Juden in Deutschland verwehrt.

09.11.2001 Kulturzeit 3sat

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